Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels

Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels

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Description

Edition Flusser Band II
200 Seiten, 3. Auflage, 2006

„Der Mensch hat Gott und den Teufel nach seinem Gleichnis erschaffen.“ Flussers Erstlingswerk, in den Jahren 1957/58 in Brasilien geschrieben und dort 1965 unter dem Titel A história do diabo erschienen, liegt hier in seiner deutschen Originalversion vor: die Geschichte des Teufels als Geschichte des Fortschritts und Kritik der Wissenschaft, Technik, Ökonomie und Kunst, erzählt anhand der sieben Todsünden. 200 Seiten, 3. Auflage 2006. Broschiert EUR 22,00. ISBN 978-3-923283-40-8

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Excerpt
Exzerpt: Die Geschichte des Teufels ----------------------------------- Erstes Kapitel: Die Kindheit des Teufels 1. Seine Geburt Geschrieben steht: Im Anfang schuf der Herr den Himmel und die Erde. In diesem Satz ist jedes einzelne Wort ein Geheimnis. Wir wollen unseren Geist nicht mit den Begriffen des Herrn und des Schaffens belasten. Der Herr ist eigentlich nicht ein Begriff, er übersteigt unser Fassungsvermögen und weist aus den Gebieten des Fassens in die Gefilde des Glaubens. Das Schaffen wirft Probleme auf, die mit Ethik und mit Ästhetik zusammenhängen. Uns scheint, als könnten wir uns ihm nur als Künstler oder Heilige nähern. Wir wollen darum diesen ganzen Komplex hier noch beiseite lassen. Außerdem schließt das Schaffen in dieser Verbindung noch das Problem "ex nihilo nihil" ein, und als moderne Menschen sind wir nicht geneigt, diese mittelalterliche Frage von neuem anzuschneiden. Was übrigbleibt vom oben erwähnten Satz, nämlich der Anfang, der Himmel und die Erde, das sind Begriffe, die uns schon zur Genüge verwirren. Wenn wir versuchen, uns vor Augen zu führen, was sie besagen, so sind wir zum ersten überrascht, mit welcher naiven Selbstverständlichkeit wir gewohnt sind, sie hinzunehmen, zum zweiten aber, wie der gesamte gigantische Kommentar der Wissenschaftler und Philosophen im Laufe der Jahrtausende nichts an der Einfachheit und dem Geheimnis des ersten Bibelsatzes zu ändern vermochte. Zwar haben unsere Weisen den Anfang immer tiefer geschoben in den gähnenden Schlund der Zeiten; zwar haben sie den Himmel zu schier unvorstellbaren Dimensionen auseinandergezerrt und gebogen; zwar haben sie die Erde mundgerecht abgerundet, an verschiedenen Stellen angebohrt und sind im Begriff, sie prekär zu verlassen, aber Anfang ist Anfang geblieben, und Himmel Himmel, und auch die Urmutter Erde birgt uns noch immer in ihrem nährenden Schoß wie am ersten Tag der Schöpfung. Seit eh und je hat etwas die Menschen verleitet, die drei Grenzen des ersten Bibelsatzes zu brechen oder zumindest auseinanderzuzerren. Seit eh und je haben sich Menschen bemüht, hinter den Anfang zu sehen, den Himmel mit unseren Werkzeugen oder zumindest mit unserem Geist zu erobern und sich von der Erde im wahren oder zumindest im übertragenen Sinn des Wortes zu lösen. Diese Bemühungen werden wir in den Kapiteln des Zornes und der Hoffart betrachten. Nie hat sich der Teufel abgefunden mit diesen drei Fesseln der Schöpfung. Ob ihm mit unserer Hilfe gelingen wird, sie einmal in fernster Zukunft zu lösen, das ist nicht nur unserer Kenntnis, sondern auch unserer Fantasie verschleiert. Eine unbegrenzte, unendliche und ewige Welt übersteigt unser Vorstellungsvermögen. In seiner bisherigen Laufbahn ist es dem Teufel gelungen, die Fesseln etwas zu lockern. Doch drängt der menschliche Geist den weichenden Grenzen nach wie ein sich ausdehnendes Gas und fühlt sich gefesselt wie immer. Allerdings müssen wir das eben Gesagte etwas modifizieren. Wenn wir sagten, daß eine unendliche und ewige Welt unvorstellbar sei, dann müssen wir gleich hinzufügen, daß eine zeitlich und räumlich gebundene sich mindestens ebenso wehrt, vorgestellt zu werden. Bei der unendlichen Welt fragt der Geist nach ihren Grenzen, bei der endlichen nach dem Jenseits der Grenzen. Wenn unsere Weisen uns lehren, daß die "Welt" zeitlich und räumlich begrenzt sei, dann verstehen wir ebensowenig, was sie damit meinen, wie wenn unsere Religionslehrer behaupten, sie sei ewig und unendlich. Wenn also der Mensch bemüht ist, die Fesseln der Welt zu brechen, dann ist das nichts als ein Versuch, aus einer unvorstellbaren Welt in eine andere zu flüchten, also eine Unwirklichkeit gegen eine andere zu tauschen. Von diesem Standpunkt gesehen, verliert das faustische Drängen des forschenden Geistes etwas von seinem Glanz. Es ist darum nur selbstverständlich, daß wir vernünftigerweise von unseren Weisen nicht erwarten können, sie mögen uns näher über den ersten Bibelsatz belehren. Gleichgültig, was sie in dieser Sache behaupten, sie bleiben uns immer gleich unverständlich, und das naive Hinnehmen des ersten Satzes scheint uns aufgezwungen. Doch verwehrt uns dieser Umstand nicht, eine Analyse dieses Satzes zumindest zu versuchen. Auf den ersten Blick bemerken wir, daß der Anfang die Zeit in sich birgt und Himmel und Erde ihr Raum sind. Der Anfang entrollt sich sozusagen im Himmel und auf der Erde wie eine aufgezogene Feder – bis er sich gänzlich entrollt haben wird und der Anfang ein Ende findet. Für den Herrn, der die Feder aufgezogen, fallen selbstredend Anfang und Ende zusammen, er sieht die ganze Feder. Nur sind wir bei dieser Überlegung verleitet, den Satz anders zu stilisieren. Geschrieben sollte eigentlich stehen: In den Himmel und auf die Erde schuf der Herr den Anfang. Durch diese Neustilisierung des Satzes, so unschuldig sie auch aussieht, gewinnen wir einen völlig neuen Aspekt auf die Welt, wir verlassen die Orthodoxie und beginnen, des Teufels zu werden. Wir sind uns nämlich gewöhnlich nicht des wörtlichen Sinnes bewußt, den unser Bibelsatz verbirgt oder, besser gesagt, offenbart, nämlich daß Himmel und Erde in den Anfang hineingeschaffen wurden. Mit anderen Worten, der Raum ist eine Schöpfung des Herrn, die Zeit hingegen, in Form des Anfangs, hat Er vorgefunden. Das kann aber doch nicht wirklich so gemeint sein. Die Zeit kann doch ohne den Raum auf keine Weise bestanden haben, sie klebt doch an den räumlichen Dingen. Diesem Umstand wird unsere Neustilisierung gerecht, denn sie besagt, daß der Herr die Zeit schuf. Erst mit dem Erschaffen der Zeit beginnen Himmel und Erde zu werden. Ohne Zeit ist der Raum nur, aber er wird nicht. Mit anderen Worten, ohne Zeit ist der Raum nur "an sich". Er wird erst phänomenal mit Hilfe der Zeit, der Herr hat die Welt erschaffen, als er die Zeit erschuf, er hat die Dinge aus dem Bereich der bloßen Ideen in das Reich der Veränderung heruntergerissen, und damit hat er die sinnliche Welt erschaffen. Wenn wir nun den Leser an die in der Einleitung versuchte Charakterisierung des Teufels erinnern, wo wir zu zeigen versuchten, daß der Teufel identisch ist mit der Zeit und mit der Geschichte und mit der Veränderung, dann sind wir nun zu folgender Neuformulierung des ersten Bibelsatzes verleitet: Geschrieben sollte stehen: In den Himmel und auf die Erde schuf der Herr den Teufel. Die Zeit, so sagten wir, ist es, die die Dinge aus dem Bereich der Noumena ins Reich der Phänomene herunterreißt, und das erscheint uns als eine einleuchtende Schilderung des Sturzes des Teufels. Wenn wir nun diese letzte Form des Schöpfungssatzes betrachten, dann erscheint uns der Teufel als die eigentliche, wenn nicht die einzige Schöpfung des Schöpfers. Er ist mit der Welt identisch, und Himmel und Erde, der bloße Raum, sind nichts als die leere Bühne des Schöpfungsdramas. Aber Welt mit Teufel zu identifizieren, so weit wollen wir unseren Puritanismus doch lieber nicht treiben. Wir wollen unsere zersetzende Analyse des ersten Bibelsatzes doch freiwillig etwas hemmen. Wir wollen zum Zweck des Weiterschreibens an unserem Buch den Satz mit hoffentlich löblicher Mäßigung wie folgt formulieren: Es schuf der Herr den Raum und die Zeit, das heißt den Himmel, die Erde und den Teufel. In dieser Formulierung erscheint der Teufel nur als ein Teil der Schöpfung, und zwar als jener Teil, der sie phänomenal macht. Damit sind wir vielleicht dem illusionären, dem "Maja"-Charakter des Teufels gerecht geworden und wollen darum bis auf weiteres an dieser Formel festhalten. © European Photography, Göttingen/Berlin. Zweite Auflage 1996